Brief an Heinrich

Den letzten drei Centurien mit insgesamt 300 Quatrains hat Nostradamus eine Widmung an König Heinrich II. (1547 – 1559) vorangestellt, die in Briefform abgefasst ist und hier daher „Brief an Heinrich“ (kurz Brief H) genannt wird.

Nostradamus erinnert zu Beginn des Briefes an seine Vorstellung bei Hof (im Jahre 1555), einen Tag, den er stets preisen werde, und lobt Heinrich als den allerchristlichen und siegreichsten König, als einen sehr weisen und klugen Fürsten, als eine einzigartige und menschenfreundliche Majestät. Diese überschwänglichen Worte, Heinrich war alles andere als ein siegreicher König, sind aus dem Zeitgeist und dem verständlichen Wunsche geboren, der König möge das ihm gewidmete Werk gnädig annehmen – und honorieren.

Vielfach herrscht die Meinung vor, dass es sich bei dem Briefadressaten gar nicht um Heinrich II. handelt, sondern um einen künftigen Herrscher Frankreichs, dem sein Schicksal mit den Quatrains vorausgesagt werde. Dies könnte durchaus der Fall sein.

Der Inhalt des Briefes hat manche Interpreten verwirrt, die meinen, dass darin „zwei verschiedene Teile zusammengearbeitet und nicht völlig harmonisiert“ worden sind (Dr. Alexander Centurio, 1953). Auch andere meinen, dass der Brief zu zwei verschiedenen Zeiten verfasst worden sei. Den ersten habe Nostradamus am 14. März 1557 (das zu Beginn des Briefes genannte Datum) abgeschlossen und den zweiten am 27. Juni 1558 (am Ende des Briefes genannt).

Es wird gezeigt werden, dass beide Daten im Brief mit einer bestimmten Absicht von Nostradamus genannt sind, und der Brief ein wohldurchdachtes Ganzes darstellt, in dem wichtige Hinweise für die Entschlüsselung der Quatrains gegeben werden.

Zu Beginn steckt Nostradamus den örtlichen und den zeitlichen Rahmen seiner Prophéties ab.

König Heinrich II. (1519-1559)

Originaltext

(laut Ausgabe 1568)

[270]  Mais a vn tres-prudent, a vn tressage Prince i’ay consacre mes nocturnes & prophetiques supputations, composees plustost d’vn naturel instinct, accompagne d’vne fureur poetique, que par reigle de poesie, & la plus part compose & accorde a la calculation Astronomique, correspondant aux ans, moys & sepmaines des regions, contrees, &  de la pluspart des villes & citez de toute l’Europe, comprenant de l’Affrique, & vne partie de l’Asie…

[395] toutesfois esperant de laisser par escrit les ans, villes, citez, regions ou la plus part aduiendra, mesmes de l’annee  1585, & de l’annee  1606, accommencant depuis le temps present, qui est le 14. de Mars, 1557, & passant outre bien loing iusques a l’aduenement qui sera apres au commencement du septiesme millenaire profondement suppute…

Nostradamus stellt zunächst fest, dass er keine Poesie schreiben wollte, daher die dafür geltenden Regeln nicht angewendet hat. Damit fallen alle Vorwürfe jener Interpreten weg, die auf die poetischen Regeln pochen. Der örtliche Rahmen seiner Prophezeiungen betrifft Europa, Afrika und einen Teil Asiens. Der zeitliche Rahmen umfasst den Zeitraum beginnend mit dem 16. Jahrhundert bis zum Beginn des siebten Jahrtausends (Anno Mundi), der im 21. Jahrhundert unserer Zeitrechnung eintreten wird.

Der Brief an Heinrich enthält wesentlich mehr Hinweise zur Entschlüsselung als der Brief an Caesar. Der Brief enthält darüberhinaus drei Textteile mit prophetischen Aussagen. Von ganz besonderer Bedeutung sind jedoch die biblischen Zeitreihen und der astrologische Text. Aus diesen Texten lassen sich die Regeln ableiten, die für die Erstellung des zweiten Vergleichstextes und für die Berechnung der Jahreszahlen maßgebend sind. Diese Regeln sind allerdings nicht im Klartext geschrieben, sondern sind aus dem französischen Brieftext durch Anagrammieren herzuleiten.