1901 – 1911   

Die Vorkriegszeit

Die ersten sechs Quatrains dieses Jahrhunderts betreffen die Zeit vor Beginn der Balkankriege 1912/13, die schon ein Vorzeichen für den nachfolgenden Ersten Weltkrieg bedeuteten. Zu den Balkankriegen war wiederum der Elias-Aufstand gegen die Türkenherrschaft ein Vorbote, und darauf bezieht sich auch der erste Quatrain von Nostradamus für dieses Jahrhundert.

1.  1903   Vers 2.28    Der Elias-Ilinden-Aufstand gegen die Türken

De penultieme au surnom du Prophete
Prendra Diane pour son iour & repos
Loing vaguer par freneticque teste
Delivrant un grand peuple d’impost.

Beim Vorletzten mit dem Beinamen des Propheten
Wird man Diane für seinen Tag und Ruhe nehmen.
Lange (wird man) wegen des rasenden Hauptes umher irren,
Ein großes Volk vom Zwang befreiend.

Der „Vorletzte“ ist keine Person sondern ein Aufstand. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1903 brach in Makedonien ein Aufstand gegen die türkische Fremdherrschaft los. Der 20. Juli ist der Tag des Propheten Elias. Der Aufstand erhielt den Beinamen des Propheten: Elias-Aufstand (mazedonisch „Ilinden-Aufstand“). Der Aufstand wurde mit militärischer Übermacht von den Türken niedergeschlagen.

Man kann ihn als den vorletzten Aufstand ansehen, danach folgte der erste Balkankrieg (siehe Quatrain 2.52, Nr.7), durch den die Osmanen endgültig alle ihre Besitzungen am europäischen Festland verloren. Der 21. Juli 1903 (nach dem julianischen Kalender) ist ein Montag, der Tag der nach der (römischen) Mondgöttin Diane benannt ist. Er wird zum Tag der Ruhe, also zum Feiertag erklärt. Bis heute ist dieser Tag (nach dem gregorianischen Kalender der 2. August) Nationalfeiertag in Mazedonien.

Das „rasende Haupt“ ist der Herrscher der Osmanen, Sultan Abdülhamid II. (1876 – 1909). Sein Spitzname war der „Rote Sultan“, wegen seiner blutigen Niederschlagung verschiedener Aufstände (Anatolien). Auch der Aufstand in Mazedonien wurde grausam niedergeschlagen. „Unter den Todesopfern waren auch 5.000 – 15.000 Zivilisten, 200 Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, 12.000 Häuser verbrannt, 70.000 Menschen wurden obdachlos, Zehntausende flohen in die benachbarten Länder…“[1]
Mazedonien und der Balkan blieben lange Zeit der „Zankapfel Europas“. Erst mit Ende des zweiten Balkankrieges 1913 wurden die Staaten neu gegliedert; diese Grenzen sind – trotz der Revisionsversuche im Ersten Weltkrieg – in etwa auch noch heute gültig.

Der Elias-Aufstand war der Auftakt dazu, dass der Balkan vom Zwang der jahrhundertlangen osmanischen Fremdherrschaft befreit wurde.

2.  1903   Vers 10.12    Die Wahl von Papst Pius X.

Au pape esleu d’esleu sera mocque
Subit esmeu soudain prompt timide
Par trop bonte par doulx à mourir provoque
Et crainte estainte la nuit de sa mort guide.


Zum Papst erwählt wird er vom Erwählten verspottet werden.
Plötzlich unerwartet Erregung, schnell und furchtsam.
Wegen zu viel Güte, wegen Sanftmut zum Sterben provoziert,
Und unterdrückter Furcht, die Nacht (ist) die Führerin seines Todes.
Papst Pius X.

Zunächst muss man zwischen den beiden „Erwählten“ der ersten Verszeile unterscheiden. Ersterer ist der zum Papst Erwählte, der zweite ist Kaiser Franz Josef, der nach der Revolution 1848 in Österreich, in der Kaiser Ferdinand die Herrschaft niederlegen musste, nicht automatisch auf den Thron kam, sondern dafür ausgewählt wurde, nachdem auch sein Vater auf den Thron verzichtet hatte. Als Papst Leo XIII. im Jahr 1903 93-jährig starb, galt sein Kardinalstaatssekretär Mariano Rampolla vielfach als Nachfolger. Tatsächlich erreichte Rampolla bereits im zweiten Wahlgang 29 von rund 60 möglichen Stimmen. Hierauf erklärte der Bischof von Krakau, Kardinal Puzyna de Kozielsko im Namen Kaiser Franz Josephs I., dass dieser von seinem tradierten Recht als apostolischer König von Ungarn Gebrauch machen wolle, Kardinal Rampolla aus dem Kreis der Kandidaten auszuschließen, also die sogenannte Exklusive anzuwenden. Die Exklusive war eine Form des Vetorechts, das seit dem 16. Jahrhundert fallweise von den katholischen Herrschern ausgeübt worden war, aber reines Gewohnheitsrecht war. Angeblich soll hinter der Exklusive gegen den franzosenfreundlichen Rampolla die italienische Regierung gestanden haben.[2] Die Exklusive führte zu großer Erregung unter den Kardinälen. Die Kardinäle protestierten gegen die kaiserliche Einmischung, da sie um die Entscheidungsfreiheit des Konklaves fürchteten (da fühlte man sich wohl „verspottet“).Dennoch wurde schließlich als Kompromisskandidat der 68-jährige Patriarch von Venedig, Giuseppe Sarto, als Pius X. am 31. Juli 1903 zum neuen Papst gewählt.
Die letzten beiden Verszeilen nehmen auf seinen Tod Bezug. Pius X. starb im der Nacht vom 20. auf den 21. August 1914 um 1:15 Uhr in Rom.[3]
„Seine Güte, Liebenswürdigkeit, Wohltätigkeit und Schlichtheit hatten ihm die Herzen aller gewonnen, die ihm naher getreten waren.“[4] Auch seine Grabinschrift nennt ihn „sanft und von Herzen demütig“, wie ihn auch der Quatrain beschreibt. Der Schmerz über den Ausbruch des Weltkrieges drückte ihn seelisch tief darnieder und „beschleunigte zweifellos seinen Tod.“[5]

3.  1903    Vers 8.20      Kardinal Rampolla

Le faux message par election fainte
Acourre de voyages per urbem, rompue pache arreste.
Voix acheptees, de sang la chapelle etaínte.
Et un autre empire contraicte.

Die falsche Nachricht durch falsche Wahl
Wird bei Fahrten durch die Stadt eilen, der vereinbarte Pakt aufgehoben.

Stimmen gekauft, mit Blut die Kapelle gefärbt,
Und von einem anderen wird die Herrschaft angenommen.

Auch dieser Quatrain nimmt Bezug auf die Wahl von Papst Pius X., was auch durch die lateinischen Worte „per urbem“ zum Ausdruck kommt, die an den päpstlichen Segen „Urbi et Orbi“ erinnern.

Falsche Nachrichten wurden in den Zeitungen verbreitet, in denen man ziemlich sicher mit der Wahl von Kardinal Rampolla rechnete. Aber auch Kardinal Girolamo Gotti galt als papabile, dieser aber als Kandidat des Dreibundes. Wie bereits im vorgehenden Quatrain erwähnt, wurde gegen Rampolla die Exklusive ausgesprochen. Diese wurde durch den neuen Papst Pius X., der ihr zwar seine Wahl verdankte, für die Zukunft verboten und dadurch unterbunden, dass Pius jedem Kardinal bei Strafe der Exkommunikation per Erlass untersagte, dem Konklave eine Exklusive zu überbringen. Somit war der „Pakt“ aufgehoben.

Dennoch wurden offenbar Stimmen im Konklave gekauft. Die „Kapelle“ ist zweifelsohne die Sixtinische Kapelle, in der die Konklaven abgehalten werden. Sie wurde 1903 „mit Blut gefärbt“. Diese Textstelle bezieht sich auf den plötzlichen Tod des Sekretärs des Konklaves, Monsignore Allessandro Volpini. In „Die Krisis im Papsttum“ ist zu lesen (Seite 162ff):[6]
„Nachfolger Rampollas als Sekretär des Konklave, Volpini, stürzte gestern nach einem furchtbaren Auftritt mit Rampolla im päpstlichen Thronsaal plötzlich besinnungslos zusammen…Monsignore Volpini ist heute früh um 6 Uhr einsam und verlassen, gestorben. Seine Leiche ist schwarz. Volpini bekannte sich offen als Anhänger der Papstkandidatur Gottis.“Monsignore Volpini war nicht nur der Freund des sterbenden Papstes Leo XIII., sondern offenbar auch ein Gegner von Rampolla. Volpini war von Leo XIII. noch kurz vor dessen Tod zum Sekretär des Konklaves ernannte worden. Insofern ist der Bezug auf die Sixtinische Kapelle im Quatrain zu verstehen, die durch den Tod von Volpini mit Blut gefärbt wurde. Die Funktion des Sekretärs des Konklaves bekam dann der aus einer spanischen Familie stammende Titularerzbischof von Nicaea, Rafael Merry del Val y Zulueta.

Die Bedeutung der Funktion des Sekretärs des Konklaves besteht vor allem im Rahmen der Wahlversammlung. Für die Person selbst ist sie auch von Bedeutung, wie aus einer Zeitungsnotiz vom 10. Juli 1903 in der „San Francisco Call“ hervorgeht: Unter dem Titel „Der Tod beraubt Mgr. Volpini des Kardinalshutes“ berichtet die Zeitung über den Tod des Monsignore. Zuletzt vermerkt sie, dass, entsprechend der Usance, der Sekretär des Konklaves vom neu gewählten Papst als erster zum Kardinal ernannt wird.[7]

4.  1908   Vers 8.75    Attentat in Portugal

Que père et fils seront meurdris au ensemble
Le prefecteur en son pavillon
À Tours la mere le ventre du fils aura enfle
Caiche verdure de feuilles, de papillon.


Der Vater und der Sohn werden gemeinsam ermordet werden.
Der Präfekt in seinem Palast.
In Tours wird die Mutter mit dem Sohn schwanger sein.
Das Grün der Blätter verborgen (und) der Schmetterling.
Carlos I.

Am 1. Februar 1908 wurden der portugiesische König Carlos und sein Sohn, der Thronfolger Ludwig Philipp, in einem Hinterhalt durch Schüsse auf die Kutsche ermordet. Der König war sofort tot, sein Sohn starb zwanzig Minuten später.

König und Thronfolger wurden in das „Palais des Nécessités“, der königlichen Residenz, gebracht, wo Ludwig Philipp starb. Vermutlich waren sie auf den Weg zum Präfekten, d.h. dem Ministerpräsidenten Joao Franco.

Tours steht pars pro toto für Frankreich, und deutet den Ortswechsel an. Im gleichen Jahr, 1908, ist die Tochter des französischen Thronprätendenten Louis Philipp Albert d’Orleans (1838-1894), Isabella Marie d’Orleans, schwanger. Ihr Mann ist Jean Pierre d’Orleans.

Am 5. Juli 1908 kommt der Sohn, Henri d’Orleans, in Nouvion (Thierache/F) auf die Welt. Jener Mann dessen Tod Nostradamus im vielzitierten Vers 10.72 für das Jahr 1999 voraussagte.

Zur Zeit des Attentats, auf die sich auch die Schwangerschaft bezieht, war es Winter, was Nostradamus mit der vierten Verszeile ausdrückt.

5.  1909   Vers 9.98    Ereignisse in Marokko


Les affligez pour defaulte d’ung seul seront taints
Contremenant à partie opposite
Mander que Lyonnois constraint
De rendre grand chef sous Melite.


Die Niedergeschlagenen werden wegen des Fehlers eines Einzelnen befleckt sein.
Man wird der Gegenpartei eine Gegenleistung erbringen,
Um zu erreichen, was die Lyoner erzwungen (haben).
(Es wird dazu kommen), den großen Chef an Malta auszuliefern.
[8]

In diesem Quatrain wurden verschiedene Ereignisse des Jahres 1909 von Nostradamus vorausgesagt.

Die erste Zeile bezieht sich auf die Differenzen zwischen Marokko und Spanien wegen Melilla, das seit dem Jahre 1497 in spanischem Besitz war und ist. Militärische Scharmützel begannen im Februar 1909. Im Juni und Juli kam es zu zwei Niederlagen der spanischen Truppen (die „Niedergeschlagenen“) gegen Guerillatruppen der östlichen Berberstämme (Alferschlucht und Wolfsschlucht). Der Fehler dabei war offenbar, dass sich Oberst Alvarez Cabrera mit sechs Kompanien nachts verirrte und in der Alferschlucht vom Gegner unter Beschuss geriet. Spanien verstärkte daraufhin seine Truppenpräsenz in Melilla und unterwarf schließlich die Berberstämme bis zum Jänner 1910.

Die zweite und dritte Verszeile beziehen sich auf die Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich wegen Marokkos. Das Deutsche Reich war nach der Marokkokrise der Jahre 1904 bis 1906 international isoliert, nur Österreich-Ungarn stand auf deutscher Seite. Als sich im Jahre 1909 ein eher unbedeutender Zwischenfall in Marokko ereignete, Deserteure der Legion wollten mit Hilfe deutscher Schiffe das Land verlassen, kam es neuerlich zu Differenzen mit Frankreich, dessen Regierung unter Clémenceau eine „kampfliche Pose“ [9] gegen Deutschland einnahm. Die deutsche Regierung wollte die marokkanische Reibungsfläche möglichst ausschalten und wollte mit Frankreich zu einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Marokko kommen. So kam es am 9. Februar 1909 zum Abschluss des Marokkoabkommens zwischen den beiden Staaten. Darin erklärten diese, die wirtschaftliche Gleichberechtigung zu wahren und sich dabei gegenseitig nicht zu behindern. Deutschland anerkannte auch „die besonderen politischen Interessen Frankreichs“ in Marokko, was einem Verzicht auf politische Maßnahmen in Marokko seitens des Deutschen Reiches gleichkam. Diese „Gegenleistung“ hatte Frankreich, so Nostradamus, durch sein drohendes Auftreten „erzwungen“.

Die letzte Verszeile betrifft die Entlassung von Bernhard von Bülow, deutscher Reichskanzler seit Oktober 1900, durch Kaiser Wilhelm II. Bülow lebte danach in Rom von einer auf Lebenszeit ausgesetzten Rente in der „Villa Malta“. Bezahlt wurde die Rente vom Ullstein Verlag als Honorar für die Überlassung seiner „Denkwürdigkeiten“, die der Verlag aber erst nach dem Tode Bülows veröffentlichen durfte.

6.  1909   Vers 9.65    Der Sultan wird abgesetzt

Dans le coing de lune là un Mars viendra
Rendra, sera prins et mis de terre estrangere
Les fruits immeurs seront à grand esclandre
Grand en vitupere à l’un grande louange.


In die Ecke des Mondes wird er dann kommen,
Er wird sich ergeben, er wird gefangen genommen und in fremdes Land gebracht.
Die unreifen Früchte werden zum großen Skandal werden.
Der Große in Schande, für Einen großes Lob.
Abdülhamid II.

 

Sultan Abdülhamid II. folgte 1876 seinem Bruder Murad V. nach, der nach nur dreimonatiger Herrschaft wegen Regierungsunfähigkeit abgesetzt worden war. Seine Regierungszeit war gekennzeichnet durch einen verheerenden Krieg gegen Russland, Staatsbankrott, Verlust von Ägypten an England und von Tunesien an Frankreich, innerstaatliche Aufstände, die er blutig niederschlagen ließ, was ihm den Beinamen „Großer Schlächter“ eintrug. Eine Verspätung um wenige Minuten rettete ihm das Leben beim Attentat im Jahre 1905.

Doch am 27. April 1909 wurde er durch die jungtürkische Bewegung abgesetzt, gefangen genommen und nach Saloniki, quasi in die Ecke des osmanischen Reiches (des „Mondes“) gebracht. Saloniki, auf griechischem Gebiet, war „fremdes Gebiet“, das von den Osmanen seit langem besetzt war.

Die „unreifen Früchte“ sind die unfähigen Nachfolger von Abdülhamid. Nach seiner Absetzung wurde sein Bruder als Mehmed V. Sultan. Dessen Regierungszeit war durch Rückschläge für das Osmanische Reich, den „kranken Mann am Bosporus“, und den Ersten Weltkrieg gekennzeichnet. Am 3. Juli 1918 verstarb Sultan Mehmed und als ältestes männliches Mitglied der Osmanen-Dynastie folgte ihm sein Halbbruder als Mehmed VI. auf den Thron, der nur eine „Marionettenrolle“ [10] im Spiel der Großmächte ausübte. Er sollte der letzte Sultan auf dem Thron des einst so mächtigen Reiches sein. Die Großmächte England und Frankreich zerschlugen 1920 das Reich und teilten es sich auf (wohl eine „Schande“). Einer stieg in dieser Zeit auf, Mustafa Kemal Atatürk, der „Vater der Türken“ und Gründer der modernen Türkei.

Anmerkungen


[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Ilinden-Aufstand
[2]  Seppelt-Löffler, Papstgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, S 476-498. http://www.museosanpiox.it/international/ger/seppelt.htm
[3]   P. Girolamo Dal-Gal (o.m.c.), Pio X il papa santo, Ed. Libreria Editrice
Fiorentina, S 283.
[4]  Zitat aus: http://www.museosanpiox.it/international/ger/seppelt.html
[5]  Maurus Schellhorn, Der heilige Petrus und seine Nachfolger, S 402
[6]  www.forgottenbooks.org/…pdf/Die_Krisis_IM_Papsttum_1100117602.pdf
[7]http://cdnc.ucr.edu/cgi-bin/cdnc?a=d&d=SFC19030710.2.36.1.2&e=——-en–20–1–txt-txIN——
[8]  Sehr häufig verwendet Nostradamus die Form der Zukunft mittels venir (das er
aber selten schreibt) verbunden mit dem Infinitiv eines Verbs.
[9]  https://archive.org/stream/1913deutschlan00reveuoft/1913deutschlan00reveuoft_djvu.txt
[10]  Josef Matuz, Das Osmanische Reich, S 269
[11]  J. Piekalkiewicz, Der Erste Weltkrieg, S 9