Quatrain 1.35

1559:  Das tödliche Turnier

Textfassung 1555 (korrigiert)

Le lyon ieune le vieux surmontera
En champ si bellique dedans singulier duel
Par cage d’or les yeux luy crevera
Deux classes & une, puis mourra mort  cruelle.

Übersetzung

Der junge Löwe wird den alten überwinden
Auf so kriegerischem Feld im einzigartigen Duell;
Durch den goldglänzenden Käfig wird er ihm die Augen  ausstechen;
Zwei Kämpfe und einer, dann wird er einen grauenvollen  Tod sterben.

Das Turnier 1559 (Ausschnitt)

Anmerkungen

Das ist der vielzitierte Quatrain über den Tod König Heinrich II. bei einem Ritterturnier. Einige Interpreten haben jedoch Bedenken und meinen, dass die Schilderung im Vers nicht exakt den tatsächlichen Gegebenheiten des Turniers entsprechen. Darauf wird hier eingegangen werden.

Interpretation

Der Quatrain bezieht sich auf den Tod des französischen Königs Heinrich II., der zu Lebzeiten von Nostradamus herrschte. Im Juni 1559 fand eine Doppelhochzeit statt, die nach langer Kriegszeit, den Frieden mit Spanien und Savoyen besiegeln sollte. Marguerite, die Schwester Heinrichs heiratete Philipp-Emanuel, den Herzog von Savoyen, und die 14-jährige Tochter des Königs, Elisabeth, wurde per procurationem mit Philipp II., König von Spanien, vermählt. Dieser wurde von Herzog Alba vertreten. Im Rahmen der Feierlichkeiten war auch ein ritterliches Turnier vorgesehen. Viele Schaulustige kamen, denn der König hatte beschlossen, selbst an dem Turnier teilzunehmen.

Beim eingehenden Vergleich der verschiedenen zeitgenössischen Berichte über den Turnierablauf, stellt man fest, dass die Schilderungen der Augenzeugen in einigen Dingen abweichen, ja manchmal sogar widersprüchlich sind. Sie ähneln darin modernen Zeugenaussagen.  Diese Widersprüche setzen sich in der Sekundärliteratur fort, je nachdem welche Grundlage herangezogen wurde.

Berichte liegen unter anderen vor: in den Memoiren von Maréchal Francois de Vieilleville, der dem König beim Turnier am nächsten stehende Teilnehmer, von Maréchal Gaspard de Saulx-Tavannes, von Pierre de Bourdeilles, Seigneur de Brantôme, und anderen.

Ort des Geschehens war das Palais de Tournelles, wo man das Pflaster der Straße Saint-Antoine weggerissen hatte, um die Sandbahn für das Turnier aufzuschütten. Das Turnier begann am 28. Juni 1559. Außer dem König waren mehrere illustre Teilnehmer vorgesehen, so etwa Herzog Charles III. de Lorraine, Herzog Francois de Guise und Herzog Jaques de Nemours. Das Turnier dauerte drei Tage.
Am dritten Turniertag, dem letzten Junitag, verlangte der König seine Waffen und eröffnete das Turnier. Lachend warnte er seinen ersten Gegner, den Herzog von Savoyen, er möge sich gut festhalten, denn er wolle ihn, ungeachtet der Familienbande und Verbrüderung, aus dem Sattel heben. Danach ritten sie auf den Turnierplatz. Das Stechen ging an den König. Der zweite Gegner des Königs war der Herzog von Guise, der sich besser im Sattel hielt. Nun gibt es Darstellungen des weiteren Geschehens, die zeigen, dass der König als dritten auf den Zweikampf mit Montgomery (auch: Montgommery) bestand, der aber abzulehnen versuchte.

Brantôme schreibt:

La malle fortune fut que sur le soir, le tournoy quasy finy, il voulut encor rompre une lance; et pour ce manda au conte de Montgomery qu’il comparust et se mist en lice. Luy refusa tout à plat et y trouva toutes les excuses qu’il y peut; mais le roy, fasché de ses responses, luy manda resulment qu’il le vouloit.
Das böse Geschick geschah, als er [der König] am Abend, das Turnier war quasi beendet, noch ein Stechen wollte und dafür dem Grafen de Montgomery befahl, dass er sich vorbereiten und auf den Turnierplatz begeben solle. Dieser weigerte sich erschöpft und fand dafür tausend Ausflüchte, die er nur (finden) konnte; aber der König, aufgebracht wegen seiner Antworten, befahl ihm kurz, dass er es wünsche.

Vieilleville schreibt:

M. de Guyse vint après, qui fit fort bien. Mais le comte de Montgomery grand et roidde jeune homme, lieutenant du sieur de Lorges son père, l’un des capitainnes des gardes, print le rang de la troisièsme course, qui estoit la derniere que le Roy devoit courir.
M. de Guise kam danach, der sich sehr gut hielt. Aber der Graf de Montgomery, ein großer und kräftiger Mann, Leutnant des Sieur de Lorges, seinem Vater, einem der Hauptleute der Garden, war an der Reihe zum dritten Stechen, das das letzte war, das der König absolvieren musste.

Die beiden hatten einen harten Zusammenstoß, blieben aber beide geschickt im Sattel. Nun machte sich Vieilleville bereit nach dem König in die Schranken zu steigen.

Mais le Roy le pria de le laisser faire ceste course contre le jeune Lorges car il vouloit avoir sa revanche.
Aber der König ersuchte ihn, ihm dieses Stechen gegen den jungen Lorges zu überlassen, weil er seine Revanche haben wolle.

Vieilleville hat, nach seinen eigenen Worten, den König von einem weiteren Stechen abzuhalten versucht, er erklärt dem König:

«Je jure le Dieu vivant, Sire, qu’il y a plus de trois nuicts que je ne fais que songer qu’il vous doibt arriver quelque malheur aujourd’huy, et que ce dernier juing vous est fatal»…Lorge se voulut excuser aussi,…mais Sa Majesté luy commandant d’entrer en lice.
„Sire, ich schwöre beim lebendigen Gott, dass ich seit mehr als drei Nächten an nichts anderes denke, als dass Ihnen heute ein Unglück zustoßen könnte. Dieser letzte Junitag ist fatal für Sie!“…Lorge wollte sich ebenfalls entschuldigen,…aber Seine Majestät befahl ihm in die Schranken zu treten.

So kam es schließlich zum weiteren verhängnisvollen Stechen mit Montgomery.
Nun berichtet Vieilleville einen ungewöhnlichen aber bemerkenswerten Umstand. Der König nahm, wie es die Regel vorschrieb, eine neue Lanze, Montgomery aber behielt die zerbrochene Lanze des vorhergehenden Stechens, die er gesenkt hielt. Alain Landurant schreibt in seinem Buch „Montgommery, le régicide“ (Der Königsmörder), es sei schwerlich zu erklären, wieso ein so erfahrener Turnierkämpfer wie Montgomery eine derart wichtige Regel missachtete und überdies kein Turnierrichter diesen Fehler bemerkte.
Vieilleville berichtet weiter: beim Stechen prallte der zersplitterte Lanzenschaft gegen den Kopf des Königs, von dort geradewegs in das Visier, das der Stoß hinaufschob, und stach ihm ein Auge aus… Der König fiel vornüber, konnte sich noch auf dem Pferd halten und wurde dann von Knappen aufgefangen. Die Königin sank ohnmächtig hin, die Geliebte des Königs, Diana de Poitiers, blieb scheinbar ungerührt. Man trug den König auf einer Bahre in das Haus, die berühmtesten Ärzte versuchten vergeblich sein Leben zu retten. Montgomerys Lanzenstumpf war in das rechte Auge eingedrungen und verursachte tödliche Verletzungen im Kopfbereich. Nach tagelangem, qualvollem Todesringen starb der König am 10. Juli 1559.

Wie passt nun der Versinhalt dazu?
Beginnen wir mit der zweiten Verszeile: „Auf so kriegerischem Feld im einzigartigen Duell“. Hier scheint der Einwand, dass es sich um ein friedliches Turnier gehandelt hat und nicht um ein Schlachtfeld zunächst zutreffend zu sein. Jean Orieux schreibt in seiner Biographie über Katharina von Medici, dass diese ritterlichen Lanzenbrechen prächtige Parodien des Krieges und fast ebenso brutal und gefährlich wie echte Kampfhandlungen waren. Nostradamus mag das vielleicht auch so gesehen haben. Vielleicht steckt aber die Absicht dahinter, dass dieser ritterliche Waffengang vielmehr ein gut ausgeführter Mordanschlag war! Diese Vermutung hatte schon Claude Haton (1534-1605) in seinen Memoiren geäußert. „Die Häretiker [AdV.: er meint damit die Hugenotten] hätten gerne gewollt und gewünscht, dass das eintritt, was beim Turnier geschah, weil sie schon einige Zeit das Mittel suchten, um Seine Majestät töten zu lassen. Um dies zu erreichen, hatten sie mehrere Mörder und Totschläger angeheuert, so wie wir es im vergangenen Jahr betreffend Caboche gesagt haben.“
Caboche, ein junger Kanzlist, hatte im September 1557 ein Attentat auf den König ausgeführt, das jedoch misslang. Obwohl die Hintergründe nie herauskamen, meinte Haton, dass die Hugenotten den Auftrag dazu gegeben hätten.
Tatsache ist, dass die Beliebtheit des Königs durch zwei seiner Maßnahmen wesentlich gesunken war. Einerseits wurden seit seinem Regierungsantritt die Verfolgungen der Hugenotten von Tag zu Tag ärger, andererseits nahm man ihm den „schändlichen Frieden“, den er mit Spanien geschlossen hatte und durch den Frankreich all seine Eroberungen der letzten Jahrzehnte aufgegeben hatte, äußerst übel. Gründe genug, den „Tyrannen“ zu beseitigen. Warum sollte man dazu nicht den jungen Gardeoffizier gewonnen haben? Hatte dieser schon damals Beziehungen zu den Hugenotten, deren Anführer er einige Jahre später, nach seiner Rückkehr aus England, geworden ist?
Die erste Verszeile spricht von einem alten und einem jungen Löwen. Oft kann man lesen, dass die beiden Kontrahenten einen Löwen auf ihrem Schild trugen. Dies kann nicht bestätigt werden. Alain Landurant schreibt, dass Montgomery die französischen Lilien, als Zeichen der engen Verbundenheit seiner Familie zum Königshaus, trug. Welches Wappen trug dann der König? Ich meine, der dichterische Vergleich des Königs zum König der Tiere, dem Löwen, erscheint logisch. Dann ist es nur ein kleiner Schritt dazu, ihm den „jungen Löwen“ gegenüberzustellen. A propos, Heinrich war zum Zeitpunkt des Turniers 40 Jahre alt, Montgomery 29. Auch Vieilleville spricht vom „jeune homme“.
Zur dritten Verszeile: Es kann angenommen werden, dass der König eine prunkvolle Rüstung trug, man wollte schließlich den spanischen Granden imponieren. Ob es nun ein goldener oder goldglänzender Helm war, der „cage d’or“ des Quatrains, ist nicht überliefert. Auch die Kritik, die Lanze habe dem König nur ein Auge ausgestochen, nicht beide, erscheint mir als Spitzfindigkeit. Man kann es auch so sehen, dass der König durch den Tod sein Augenlicht total verloren hat.
In der vierten Verszeile bildet für manchen der Ausdruck „classes“ Übersetzungsprobleme. Im Lateinischen bedeutet classis = Abteilung, Klasse, Rang, Heer, Flotte. In frühen französischen Wörterbüchern (1606, 1694) findet man für das Wort la classe die Bedeutung Truppe und Rang. Nostradamus verwendet den Ausdruck etwa vierzig Male in seinen Quatrains, meist im Sinne von Heer, Flotte. Hier ist eher Abteilung, im Sinne von Kampf, Stechen gemeint. Tatsächlich brachte der dritte Kampf, nach jenen gegen die Herzöge von Savoyen und Guise, dem König den Tod.
Zum Schluß ein interessantes Anagramm, das den Namen des Grafen Montgomery enthält: die dritte Verszeile beginnt mit dans caiGE D’OR LES yeux… Nimmt man die (nur hier) groß geschriebenen Buchstaben, erhält man: DE LORGES… ein Zufall? Nein, solche Anagramme lassen sich in vielen Quatrains nachweisen. Jetzt versteht man auch, weshalb Nostradamus „d’or“ und den Plural „les yeux“ formulierte.

Gegenüberstellung der Korrekturen

Durchführung der Korrekturen:  der Vers enthält 5 c, daher sind 5 Korrekturen vorzunehmen.Zur Erinnerung: Vertauschungen von Buchstaben oder Wörtern zählen nicht als Korrektur. Neu eingefügte Buchstaben oder Wörter stammen aus dem Wörterpool (hier rot geschrieben).

1
 –  S+I
2
 PAR  DE+DANS
3
 DUELLE  DUEL
 DANS  PAR
 CAGE+I  CAGE
4
 –  &
5
 MOURIR  MOURRA

Die Berechnung

erfolgt entsprechend den Regeln: mit der inversen Vokal-Reihe (AEIOU-UOIEA-AEIOU…) und folgender NOM-Reihe: NCH-CHN-NHC-CNH-HNC-HCN. Die LAT-Reihe verlangt den Vokal U.

 

Berechnung des Jahrhunderts:
(rot)
Platz Nr.:
29…39…59
Vokalanzahl:
1518 …27
1. Berechnung der Jahreszahl:
(grün)
NOM- Reihe: 97
minus V: -2
Differenz: 95
Invers: 59

2. Berechnungs der Jahreszahl
(braun)

LAT-Reihe: 59

Platz Nr. 421
Buchstabe: A

Ergebnis:

1559