500 JAHRE DANACH

Roman
ISBN 978-3-86460-843-8

Textausschnitt 1

Februar 2002:  Des Vaters Erbe

In der Nationalbibliothek hatte es wie immer vor den Weihnachtsfeiertagen und dem Jahreswechsel besonders viel zu tun gegeben. Zum Teil waren Veranstaltungen vorzubereiten, Neuinventarisierungen vorzunehmen, kurz, Gabriel hatte keine Zeit, sich weiter mit den Nostradamus-Versen zu beschäftigen. Doch im neuen Jahr dachte er wieder verstärkt an die Prophezeiungen. Er kaufte sich weitere Bücher, um auch die Gesamtheit der Quatrains kennen zu lernen. Je mehr Autoren er las, desto mehr hatte er den Eindruck, dass eher ein Rätselraten um die Auslegung der Versinhalte vor sich ging, als eine fundierte Untersuchung. Da wurden für ein und denselben Quatrain drei bis vier Auslegungen für ganz verschiedene Jahrhunderte angeboten. Und jeder der Autoren versicherte, er hätte den Code geknackt. Manche üppig mit Bildern ausgestattete Internetseiten schreckten Gabriel eher ab. Nostradamus war immer noch, auch nach Jahrhunderten ein gutes Geschäft.
Doch Gabriel wollte mehr. Er wollte die Wahrheit. Er wollte vor allem an das Erbe seines Vaters – die rote Mappe. Er fand, er hätte ein Recht darauf, denn einst fand sie sein Vater und sie hatte ihm gehört. Ein eher unwürdiges Geschäft hatte ihn dazu gebracht, die Mappe dem Vatikan zu überlassen. Ja, dafür hatte der Vater, der Angehöriger einer Klostergemeinschaft gewesen war, wohl seine Entlassung in ein bürgerliches Leben bekommen, doch Gabriel schien es doch wie Erpressung gewesen zu sein.
Lange dachte Gabriel darüber nach, wie er an sein Erbstück gelangen könnte. ‘Ich bin doch Bibliothekar, da könnte ich mich doch bei der Vatikanischen Bibliothek bewerben’, sagte er sich eines Tages. ‘Doch wie stelle ich das an? Wie soll ich denn die rote Mappe in dieser riesigen Bibliothek überhaupt finden?’
Gabriel recherchierte im Internet. Das Archivum Secretum Apostolicum Vaticanum umfasste zirka 85 Regalkilometer Dokumente! Noch lange nicht sind alle inventarisiert. Und wenn sein erstrebtes Dokument gar verreit oder verschwunden war? Napoleon hatte 1810 die Überführung des Archives aus Rom nach Paris angeordnet. Als es fünf Jahre später rückgestellt wurde, konnte man schwere Verluste an Unterlagen feststellen.
Gabriel schauderte – sein Vorhaben schien undurchführbar.

Textausschnitt 2

April 2005:  Die Flucht aus dem Vatikan

Gabriel näherte sich in der engen Straße seinem Wohnhaus. Es waren nur wenige Leute auf der Straße. Auch im Cafe gegenüber saßen nur wenige Gäste. Tatsächlich fielen ihm zwei Gestalten auf, die eher gelangweilt herumstanden und plauderten. Gabriel dachte: ‘Das sind die Agenten des Vatikans.’
Gabriel ging tapfer weiter auf den Eingang seines Wohnhauses zu, wobei er die beiden verdächtigen Gestalten im Auge behielt. Als Köder fühlte er sich gar nicht wohl, von seinem Reaktionsvermögen hing viel ab. Erstaunt sah er, dass die beiden Personen, die er für Agenten gehalten hatte, sich entfernten.
Doch plötzlich erhoben sich zwei andere Personen blitzschnell von ihren Stühlen im Cafe und liefen auf Gabriel zu. Dieser war sehr überrascht, als ihm unvermittelt Gefahr von ganz anderer Seite drohte, doch instinktiv rannte er los. Die beiden Agenten hinter ihm her. Gabriel suchte aus der engen Straße in die angrenzende belebte Hauptstraße zu gelangen. Er wusste, er musste die Agenten auf Distanz halten, durfte aber ihren Augen nie ganz entschwinden, damit er sie weiter von seinem Wohnhaus ablenken konnte. Manchmal suchte er Deckung in einem Torbogen, so dass die Agenten suchend sich umschauten. Dann rannte er wieder los, querte die stark befahrene Hauptstraße, die Verfolger hetzten hinterher. Plötzlich krachte es, einige Autos waren kollidiert, einer der Verfolger war von einem  Fahrzeug erfasst und niedergestoßen worden. Sofort umringten neugierige Passanten die Unfallstelle. Gabriel hörte, wie man nach einem Krankenwagen und der Polizei rief. Dann sah er, dass der zweite Verfolger ihm inzwischen bereits verdammt nahe gekommen war. Gabriel lief um sein Leben. 

*

Maria hatte aus einigem Abstand beobachtet, wie Gabriel vor seinem Haustor von zwei Männern aus dem Cafe aufgespürt und verfolgt wurde. Jetzt war es Zeit, zu handeln. Sie ging in das Haus hinein und stieg die breite Treppe in den ersten Stock hinauf. Niemand war im Treppenhaus. Gabriels Wohnungstür war mit einem breiten Klebeband mit der Aufschrift „Policia“ versehen. Maria riss es kurzerhand weg und sperrte die Türe mit dem Schlüssel auf, den ihr Gabriel mitgegeben hatte.
Als Maria vom Vorzimmer der Wohnung in den Wohnraum trat, erschrak sie. Alles war durchwühlt worden. Die Leute des Vatikans hatten gründliche Arbeit geleistet, die Schränke waren geöffnet, die Läden herausgerissen worden, Kleidungsstücke lagen wirr auf dem Boden. ‘Wie kann ich denn in dieser Unordnung je die Dokumente finden?’ dachte Maria.
Gabriel hatte ihr genau beschrieben, wo er seine wichtigsten Sachen aufbewahrt hatte. Er hatte von Anfang an mit Schwierigkeiten im Vatikan gerechnet. Daher hatte er seine persönlichen Dokumente in einen Briefumschlag gegeben und ihn in der kleinen Hausbar unter dem Spiegelboden, auf dem die Getränke standen, versteckt. Das war ihm sicher genug erschienen. An die bessere Lösung der Deponierung in einem Schließfach, hatte er leider nicht gedacht.
Maria fand die Hausbar, sie schien nicht unberührt, einige Flaschen waren herausgenommen worden, die nun leer vor der Hausbar herumlagen. Offenbar hatten die Suchenden dem Inhalt nicht widerstehen können. Rasch nahm Maria die restlichen Flaschen aus dem Schrank, hob den Spiegelboden an und – tatsächlich, da war der Briefumschlag!
Maria verließ schnell die Wohnung und das Haus. Sie hatte mit Gabriel vereinbart, dass sie sich beim Springbrunnen auf der Piazza Navona treffen.

*

Gabriel lief um sein Leben. Sein Verfolger war schnell. Gabriel rempelte im Laufen Passanten an, riss einmal auch einige Obststeigen eines Geschäftes nieder, sodass die Orangen auf den Gehsteig kollerten. Sein Verfolger, der behend über die rollenden Orangen sprang, war ihm dicht auf den Fersen. Gabriel hoffte, im nächsten großen Kaufhaus untertauchen zu können. Er hetzte zu Fuß die Rolltreppe in die obere Etage hinauf, unbeeindruckt hörte er hinter sich die empörten Ausrufe der Kunden.
Im Obergeschoss waren Möbel für Wohn- und Schlafzimmer ausgestellt. Bevor ihn noch sein Verfolger sehen konnte, versteckte sich Gabriel in einem der Kleiderschränke. Durch die leicht geöffnete Schranktür beobachtete er seinen Gegner. Der lief mal hin, mal her, einen Angestellten des Kaufhauses stieß er brutal zur Seite, eine Kundin schien einer Ohnmacht nahe. Ein weiterer Angestellter, offenbar der Leiter der Verkaufsabteilung, wollte den Agenten aufhalten, wurde aber von diesem mit einem Kinnhaken zu Boden gestreckt. Schließlich wurde dem Tohuwabohu von drei Sicherheitskräften des Kaufhauses ein Ende gesetzt. Sie führten den Tobenden ab.
 „Wollen sie diesen Schrank etwa kaufen?“ fragte eine Dame, als Gabriel langsam aus seinem Versteck stieg. „Wir waren aber früher da und haben uns für ihn bereits entschieden.“

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Februar 2007:  Die erste Warnung

Post war gekommen. Maria brachte einen großformatigen Brief zu Gabriel, der für ihn bestimmt war. Erstaunt sagte Gabriel: „Wer schreibt mir denn Briefe?“
Er hatte niemandem, außer Benuci, seine Adresse bekanntgegeben. Sogar seinem Arbeitsgeber, Herrn Gruber, hatte Gabriel seine Adresse verschwiegen. Bei seiner Einstellung hatte Gabriel vorgegeben, er habe noch keine feste Wohnanschrift, wohne bei einem Freund, werde aber sobald er eine Wohnung gefunden habe, die Adresse bekanntgeben. Herr Gruber war einverstanden gewesen und hatte dann auf die Adresse ganz vergessen.
Gabriel öffnete den Umschlag, der ein einzelnes Blatt enthielt, auf dem aus Zeitungen ausgeschnittene Wörter aufgeklebt waren:

Warnung!
Gib das Gestohlene zurück, sonst ereilt Dich Unheil!
Wir melden uns wieder!

Gabriel wollte das Schreiben vor Maria verstecken, doch die hatte sein Erschrecken erkannt und nahm ihm das Blatt aus der Hand. Maria erbleichte.
„Wer steckt dahinter?“ fragte Gabriel.
„Das scheint ja wohl klar zu sein. Ich denke, damit hat dein sauberer Freund, der Baron zu tun“, antwortete Maria.
Gabriel dachte mehr an die Kirche, denn Benuci hatte ihm sofort nach seiner Rückkehr aus Italien von der Geschichte des Pfarrers Don Piero erzählt, wonach der Vatikan Agenten ausgeschickt habe, um Gabriel aufzuspüren. Hatten sie seinen Wohnort bereits herausgefunden? Oder steckte doch der Baron dahinter? Gabriel wollte Gewissheit und ging trotz des Verbotes von Maria zum Haus von de Rigoux, um ihn zur Rede zu stellen.

*

„Welche Überraschung, Herr Kaun! Was führt Sie zu mir, habe ich vielleicht einen Termin übersehen?“ Baron Rigoux schien ehrlich erstaunt zu sein.
 Gabriel war die Situation plötzlich peinlich. Wie konnte er dem Baron die Verfassung des Drohbriefes unterstellen und ihn jetzt auch noch danach fragen. Er fand einen Ausweg:
„Ich wollte Sie um Rat fragen. Sehen Sie, was ich heute früh in meinem Postkasten fand.“ Gabriel zeigte dem Baron den Drohbrief.
„Nehmen Sie denn solche anonyme Schreiben ernst?“ fragte der Baron Gabriel. Diese Reaktion des Barons hatte Gabriel nicht erwartet.
„Sollte ich nicht? Immerhin scheint die Drohung doch ernstgemeint zu sein.“
 „Ja, da haben Sie vielleicht recht. Warum kommen Sie damit zu mir?“
 Gabriel erfand eine Notlüge: „Ich kenne sonst niemanden in Wien. Sie waren stets freundlich zu mir bei meinen Besuchen, ich hoffte, Sie können mir raten, was ich tun soll.“
 „Ich verstehe, ich möchte Ihnen auch gerne behilflich sein, wenn ich mich auch in diesen Dingen, also solchen kriminellen Dingen, nicht auskenne. Kommen Sie, setzen Sie sich, wir wollen die Sache mit kühlem Kopf besprechen.“
Gabriel nahm in einen der Fauteuils in der Bibliothek Platz. Der Baron nahm sich einen Cognac und bot auch Gabriel einen an: „Der wird Ihnen gut tun, er macht den Kopf klar.“ Gabriel nahm dankend an.
 „Zunächst muss ich Sie fragen, um welches ‘Gestohlene’ handelt es sich denn, das Sie zurückgeben sollen?“
 Gabriel saß in der Falle, jetzt musste er Farbe bekennen. „Es ist so, dass mir Unterlagen in die Hände gefallen sind, deren Herkunft ich nicht kenne. Vermutlich sind diese Unterlagen gemeint.“
 „Sind es die Unterlagen, die Sie mir letzthin gezeigt haben?“
 „Ja, es sind die Manuskripte von Nostradamus.“
 „Die scheinen ja sehr wertvoll zu sein, wenn man Sie deswegen bedroht. Werden Sie sie dem ursprünglichen Besitzer zurückgeben?“
 „Das will ich nicht, nur wenn ich mich dazu gezwungen sehe.“
„Vielleicht gibt es eine andere Lösung. Vielleicht könnten Sie sich von den Unterlagen trennen, sie jemand anders überlassen?“
„Wie meinen Sie das, Baron? Wem sollte ich sie denn geben?“
„Nehmen wir mal an, Sie verkaufen das Manuskript. Dann kann man Sie auch nicht mehr deswegen bedrohen, weil Sie es gar nicht mehr haben.“
 „Ja, schon, aber wo finde ich so schnell einen Käufer?“
 „Lieber Freund, es scheint heute Ihr Glückstag zu sein!“ Gabriel schaute ungläubig drein. Der Baron bekräftigte: „Ja, der Käufer sitzt vor Ihnen. Sehen Sie, Herr Kaun, ich vertrete ein Finanzkonsortium, das Interesse an der Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Zukunft hat. Genau der Zukunft, die aus Ihren Unterlagen hervorgeht. Wir wären bereit, gegen einen vernünftigen Preis, den Sie bestimmen können, Ihre Unterlagen zu kaufen. Damit wäre auch, denke ich, Ihr persönliches Problem mit diesem gestohlenen Manuskript gelöst.“
 Gabriel wusste nicht, was er zu diesem unerwarteten Angebot sagen soll. Er sollte das Manuskript, das Erbe seines Vaters für das er so viel riskiert hatte, um es zu bekommen, einfach verkaufen? Gabriel dankte dem Baron für sein Angebot, erbat sich jedoch Bedenkzeit, er wolle sich die Sache überlegen.
 „Überlegen Sie, überlegen Sie aber nicht zu lange!“
Als Gabriel gegangen war, sagte der Baron zu Philipp: „Vielleicht hat die Drohung doch genützt, dass sich Kaun zum Verkauf leichter entschließt. Immerhin ist er nach längerer Zeit wiedergekommen. Sag, Philipp, die Blätter des Manuskripts sind doch nummeriert. Wieviel Blätter fehlen uns denn?“
„Soweit ich das beurteilen konnte, zirka die Hälfte der gesamten Schrift. Vor allem aus dem mittleren Teil.“
 „Der Präsident beharrt auf den Rest, ich soll die Kohlen nun aus dem Feuer holen. Hätten wir, wie ich vorgeschlagen hatte, kurzen Prozess gemacht, läge das ganze Manuskript bereits auf dem Tisch des Präsidenten. Doch er wollte ja eine stille und elegante Lösung!“
„Können Herr Baron die Methode nicht ändern? Ich stehe zur Verfügung.“
„Danke, Philipp. Den Präsidenten brauchen wir ja nicht einzuweihen, er wird mit dem Erfolg zufrieden sein. Also hör zu, wie wir vorgehen.“