DER FLUCH DES TOTEN SEHERS

Roman
ISBN 3-939533-41-6

Textausschnitt 1

Januar 1688: Die Erlaubnis, das Grab des Nostradamus öffnen zu dürfen, hatte Baron d’Embrun eine schöne Stange Geldes gekostet, welche die Klosterverwaltung des Couvent des Cordeliers in Salon schließlich bewogen hatte, nichts gegen die Graböffnung einzuwenden, genauer gesagt – nichts zu hören und von nichts zu wissen! Am 5. Januar des Jahres 1688, einem verregneten Montag, wurde nach dem Abendgottesdienst die Kirche und das Kloster für die Öffentlichkeit geschlossen, so dass Baron d’Embrun, Doktor Moreau und Madame Charmot ungestört ihrem Vorhaben nachgehen konnten. Sie trafen in der Rue d’Hozier vor dem Kloster zusammen, ernst und wortkarg, wie drei Verschwörer. Es war eine jener Nächte, die selbst den Mutigsten erschaudern lassen konnte. Der Wind peitschte den Regen, Donner und Blitz begleiteten ihn, so als zeige Gott seinen Unmut über die geplante Ruhestörung des Toten. Madame Charmot wäre nun im letzten Moment am liebsten umgekehrt, hätte sie nicht schon ihre Zusage gegeben und die anstrengende Reise auf sich genommen. Ein Mönch mit einem riesigen Schlüsselbund öffnete ihnen schweigend den Klostereingang, führte sie zu einem Seiteneingang der Kirche und zeigte ihnen durch Gesten den Weg zum Grab. Dann verschwand er lautlos. Nun standen sie vor dem Grab und lasen auf einer Marmorplatte die Inschrift in Großbuchstaben CLARISSIMI OSSA MICHAELIS NOSTRADAMI… hier hatten die Gebeine des Michael Nostradamus ihre Ruhestätte gefunden. Der Baron hatte einige ausgewählte Diener, die verschwiegen und ihm ergeben waren, mitgebracht, welche die schwere Arbeit zur Hebung der Grabplatte ausführen sollten. Doktor Moreau versuchte Madame Charmot zu beruhigen, die vom Gewitter und den ungewohnten Umständen geängstigt, dem Kommenden mit Unruhe entgegensah. ‚Es ist Grabschändung, was wir vorhaben‘, dachte sie im Geheimen. Der Baron sah weitgehend regungslos, aber sichtlich angespannt den Arbeiten seiner Leute zu. Nur manchmal musste er ihnen Anweisungen geben. Baron Charles Alexandre d’Embrun entstammte einer Adelsfamilie aus der Grafschaft Dauphiné. Seine Ahnen hatten ihren Besitz durch kluge wirtschaftliche Maßnahmen stets vergrößert, so dass Charles, der einzig lebende Spross der Familie, wohlbegütert und finanziell unabhängig leben konnte. Charles lebte auf seinen Gütern zumeist im Palais des kleinen Ortes Embrun, wo er sich den Wissenschaften verschrieben hatte. So widmete er sich der Astrologie, studierte Sprachen und Geschichte und hatte insbesondere an den Schriften von Nostradamus großes Interesse gefunden. Er war 34 Jahre alt und noch immer nicht verheiratet. Als einziger Nachkomme machte er sich manchmal Sorgen wegen einer standesgemäßen Heirat und einem Erben, aber noch hatte er nicht die richtige Lebensgefährtin gefunden. Noch brannte sein Herz allein für die Wissenschaft. Und heute wollte er seine Forschungen krönen, durch einen aufsehenerregenden Fund, die geheimen Schriften des Maître de Nôtredame mit dem seit langem gesuchten Schlüssel zu seinen Prophezeiungen! Die Diener des Barons hatten inzwischen ein Stück der Grabplatte freigelegt. Stück für Stück musste die Befestigung der schweren Marmorplatte beseitigt werden. Endlich konnte die Platte beiseite geschoben und der Sarg geöffnet werden. Die Diener bekreuzigten sich furchtsam. Der Baron und der Doktor starrten in den geöffneten Sarg. War Nostradamus einbalsamiert worden? Unglaublich, fast unversehrt schien seine irdische Hülle im Grab zu liegen, dies nach über 120 Jahren! Jedenfalls bestand kein Zweifel darüber, dass es der Seher von Salon war…

Textausschnitt 2

Juli 1937:  Pater Benedictus hatte sich schon mit den ersten sechs Kapiteln des Büchleins seines deutschen Forscher-Kollegen Carl Loog befasst, das ihm dieser einst zugesandt hatte…Er wollte eben seine alten Notizen darüber durchsehen, als Bruder Laurentius ganz aufgeregt in seine Zelle hereingestürzt kam und rief: „Pater Benedictus! Pater Benedictus!“ „Beruhige Dich, Bruder, was ist denn so Aufregendes geschehen?“ antwortete der Pater, der sich nicht vorstellen konnte, dass sich in der klösterlichen Einförmigkeit überhaupt etwas Aufregendes ereignen könnte. „Seht, was ich in einer der Kisten zwischen alten Büchern, die ich eben katalogisieren wollte, gefunden habe!“ Bruder Laurentius zeigte dem Pater eine rote Mappe, die ein noch unversehrtes Siegel verschloss. „Diese Mappe habe ich noch nie gesehen, auch das Siegel kenne ich nicht. Ich kenne alle Siegel der Herrscher, die dem Kloster Urkunden oder Handschreiben gesandt haben, aber dieses…“ stellte Bruder Laurentius etwas stolz fest. Der Pater dachte amüsiert, ‚diese Bemerkung wirst du beichten müssen, lieber Bruder‘, laut aber sagte er: „Schauen wir uns das Siegel doch näher an. Es zeigt im oberen Teil die Sonne und im unteren Teil offenbar drei Planeten. Ich erkenne darunter Mars, Jupiter und Saturn…“ Die Stimme des Paters war immer leiser geworden. Eine plötzliche Ahnung erfüllte ihn, und mit kaum hörbarer Stimme las er die etwas undeutliche Randschrift ‚Nostradamus‘. Er hielt es nicht für möglich, aber er wusste, wenn nicht eine Fälschung vorlag, war das der Abdruck des Siegelringes des Sehers. Dieser musste die Schrift selbst gesiegelt haben, sie stammte von ihm persönlich… Dem Pater wurde etwas schwindlig und er musste sich setzen. „Was hast Du, ist Dir nicht gut? Kennst Du das Siegel?“ fragte der Frater besorgt und neugierig. „Ich glaube, es zu kennen“, antwortete der Pater ausweichend, „ich muss die Schrift jedenfalls dem Abt bringen.“ „Ja, das ist unsere Pflicht. Gehen wir.“ Der Pater hatte gehofft, Bruder Laurentius loszuwerden und allein zum Abt gehen zu können, aber die Neugierde des Konfraters war geweckt. Auch wollte dieser ‚seinen‘ offenbar außergewöhnlich interessanten Fund nicht dem Pater allein überlassen, ja insgeheim hoffte er sogar, eine Belobigung für seinen Fund vom Abt zu bekommen. Nachdem Bruder Laurentius dem Abt berichtet hatte, wie er die geheimnisvolle Mappe gefunden hatte, verwies er darauf, dass auf dem Siegel der Name Nostradamus zu finden sei. Der Pater dachte, entweder hatte der Bruder ausgezeichnete Ohren oder er hatte den Namen schon gelesen, bevor er ihm die Mappe gebracht hatte. Abt Ignatius fragte den Pater, was seine Meinung sei. „Hochwürdigster Abt, das Siegel könnte tatsächlich von dem französischen Seher stammen. Wie man aus einem seiner Briefe, der sich erhalten hat, weiß, hatte er einen solchen Siegelring. Es kommt nun auf die Schriften im Innern der Mappe an, ob diese Annahme bestätigt wird. Ich habe eine Kopie eines handgeschriebenen Briefes von Nostradamus, so dass ich durch einen Schriftvergleich mit den Schreiben in dieser Mappe seine Urheberschaft überprüfen könnte.“ „Ja, ich möchte jedoch vermeiden, dass das Siegel zerbrochen wird. Vielleicht lässt sich die Mappe auf eine andere Weise öffnen“, meinte der Abt. Darüber war Pater Benedictus sehr froh, denn auch er wollte, dass das Siegel unversehrt bleibt. Der Abt ließ ein scharfes Messer, das einem Skalpell sehr ähnelte, kommen, und Pater Benedictus versuchte, die Mappe seitlich aufzuschneiden, so dass man die eingelegten Schriften herausnehmen konnte. Es waren lediglich zehn Blätter, die eng beschrieben waren. Bruder Laurentius schien ein wenig enttäuscht, doch Pater Benedictus reichte dem Abt die Blätter mit zitternden Händen, als er die Überschrift gelesen hatte: Les Règles. Und am Ende stand das aus anderen Schriften des Sehers bekannte Faciebat M. Nostradamus – Verfasst von M. Nostradamus. „Wenn es das ist, wofür ich es halte, dann haben wir einen Jahrhunderte lang gesuchten Schatz gefunden, Ehrwürdiger Abt!“ sagte der Pater und setzte, als er den fragenden Blick des Abtes sah, hinzu: „Es könnten die Regeln sein, die Nostradamus für die Verschlüsselung seiner Centurien angewendet hat. Das wäre die Sensation!“ „Vergesst nicht, liebe Brüder, eine solche Sensation wäre vielleicht unserem Kloster gar nicht förderlich und in Rom sicher nicht erwünscht. Außerdem müssen wir hinsichtlich der Herkunft und des Inhaltes dieser Schrift völlig sicher sein. Ich beauftrage Dich, Pater Benedictus, die Schrift in jeder Hinsicht zu prüfen, um ihre Authentizität klarzustellen…

Textausschnitt 3

Dezember 1939:  Nach einer Leiterbesprechung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda Mitte Dezember ersuchte der Erste Staatssekretär Otto Dietrich Reichsminister Goebbels um eine Unterredung unter vier Augen. „Herr Reichsminister, mir machen die vielen astrologischen Publikationen, die neuerdings in Umlauf kommen, Sorge. Sie berufen sich meist auf einen französischen Seher des 16. Jahrhunderts, einem gewissen Nostradamus, der Prophezeiungen geschrieben haben soll, die auch unsere Zeit betreffen.“ „Wer sind denn diese Leute, die das schreiben, und was schreiben sie?“ fragte Goebbels. „Wir haben eine Liste dieser suspekten Personen und ihrer Veröffentlichungen zusammengestellt.“ Dietrich überreichte dem Reichsminister diese Liste… „Jawohl, Herr Reichsminister! Da ist noch eine Sache. Die Gestapo hat im Rahmen ihrer Ermittlungen gegen Krafft, auch seine Korrespondenz überprüft, um allenfalls weitere verdächtige Personen ausfindig zu machen. Wir haben diesbezüglich Unterlagen bekommen. Dabei haben sich Briefe an ein Mitglied der katholischen Kirche in Österreich, einen Mönch namens Pater Benedictus, gefunden. Er befasst sich ebenfalls mit den Schriften des Nostradamus, was soll in diesem Fall geschehen? Er steht nicht auf der Liste, weil er kein Buch veröffentlicht hat.“ „Ein Pater… den wollen wir doch nicht so einfach verhaften. Momentan will der Führer keinen neuen Ärger mit der katholischen Kirche. Aber, wir sollten der Sache nachgehen, vielleicht können wir ihn als propagandistisches Druckmittel gegen die Kirche noch brauchen. Ich denke, es wäre am besten einen Mann in das Kloster einzuschleusen, der den Pater überprüft und uns Meldung macht. Stellen Sie diesbezüglich das Einvernehmen mit Gruppenführer Müller von der Gestapo her. Die haben sicher einen geeigneten Mann dafür. Ich möchte aber direkt informiert werden. Machen Sie mir unverzüglich Meldung.“ „Jawohl, Herr Reichsminister. Ich werde das Nötige veranlassen.“