Die biblischen Zeitreihen

Der Brief an Heinrich enthält zwei Textstellen, in denen Nostradamus jeweils eine Chronologie über die Zeit von der Erschaffung der Welt bis zur Geburt Jesu Christi aufstellt. Die offensichtliche Verbindung zu biblischen Daten hat viele Interpreten verleitet, eine Verbindung zu den Chronologien der Menschheitsgeschichte herzustellen, die seit Eusebius (ca. 275-339) immer wieder verfasst wurden. Eusebius war Bischof von Cäsarea. Man bezeichnete ihn später als „Vater der Kirchengeschichte“, die er in einem zehnbändigen Werk vom Entstehen der christlichen Kirche bis etwa zum Jahr 324 schildert.

Er hat aber auch eine Chronik (Chronographia) verfasst, in der er die Menschheitsgeschichte seit Abrahams Geburt darlegt, wobei er Chroniken verschiedener Völker, der Hebräer, Assyrer, Ägypter, Griechen u.a. miteinander verglich. Ein phantastisches Werk, das Hieronymus (347-420) fortführte und nach ihm noch einige andere.

Nostradamus nennt Eusebius auch im Brief H und schreibt, dass sich seine Angaben von denen des Eusebius unterscheiden. Dieser aufgezeigte Widerspruch sollte einem hellhörig machen! Will Nostradamus tatsächlich mit seinen Angaben eine neue Zeitberechnung einführen? Oder scheint sie nicht das zu sein, was sie vorgibt?

 

Die erste biblische Zeitreihe

Originaltext

(laut Ausgabe 1568)

[799] car l’espace de temps de nos premiers, qui nous ont precedez sont tels, me remettant sous la correction du plus sain iugement, que le premier homme Adam fut deuant Noe enuiron mille deux cens quarante deux ans, ne computant les temps par la supputation des Gentils, comme a mis par escrit Varron:

[820] mais tant seulement selon les sacrees Escriptures, & selon la foiblesse de mon esprit, en mes calculations Astronomiques. Apres Noe, de luy & de l’vniuersel deluge, vint Abraham enuiron mille huictante ans, lequel a este souuerain Astrologue, selon aucuns, il inuenta premier les lettres Chaldeiques:

[863] apres vint Moyse enuiron cinq cens quinze ou seize ans, & entre le temps de Dauid & Moyse, ont este cinq cens septante ans la enuiron. Puis apres entre le temps de Dauid, & le temps de nostre Sauueur & Redempteur Iesus Christ, nay de l’vnique Vierge, ont este, selon aucuns Cronographes mille trois cens cinquante ans: pourra obiecter quelqu’vn ceste supputation n’estre veritable, pource qu’elle differe a celle d’Eusebe.

[929] Et depuis le temps de l’humaine redemption iusques a la seduction detestable des Sarrazins, s’ont este six cens vingt & vn an, la enuiron, depuis en ca l’on peut facilement colliger quels temps sont passez, si la mienne supputation n’est bonne & valable par toutes nations, pource que le tout a este calcule par le cours celeste, par association d’esmotion infuse a certaines heures delaissees, par l’esmotion de mes antiques [997] progeniteurs:

Übersetzung

Denn die Zeiträume unserer frühen Vorfahren sind folgende, wobei ich mich der Korrektur des allerheiligsten Gerichts unterwerfe: Der erste Mensch, Adam, lebte vor Noah, etwa 1242 Jahre, nicht gezählt die Zeiten in den Berechnungen der Heiden, wie sie Varro niederschrieb:
Vielmehr richte ich mich allein nach den Heiligen Schriften und meinen bescheidenen Erkenntnissen aus meinen astronomischen Berechnungen. Nach Noah, von ihm und der weltweiten Flut kam ungefähr 1080 Jahre später Abraham, der ein hervorragender Astrologe war; er begründete erstmalig die Wissenschaft der Chaldäer.
Danach kam Moses nach etwa 515 oder 16 Jahren und zwischen der Zeit von Moses und David lagen ungefähr 570 Jahre. Dann danach zwischen der Zeit von David und der Zeit unseres Heilandes und Erlösers Jesus Christus, geboren von der einzigartigen Jungfrau, sind nach den Angaben der Chronisten 1350 Jahre vergangen: man könnte einwenden, einige der Berechnungen seien unrichtig, weil sie sich von denen des Eusebius unterscheiden.
Und von der Zeit der menschlichen Erlösung bis zur abscheulichen Verführung der Sarrazenen sind es 621 Jahre gewesen, ungefähr, seitdem kann man leicht ermitteln, welche Zeiten vergangen sind, ob meine Berechnung nicht gut und für alle Nationen gültig ist, zumal alles nach dem Lauf der Gestirne berechnet wurde, im Einklang mit der natürlichen Anregung in bestimmten Stunden überlassen, durch die Anregung meiner Vorfahren.

Die zweite biblische Zeitreihe

Originaltext

(laut Ausgabe 1568)

[2709] Toutesfois comptans les ans depuis la creation du monde, iusques a la naissance de Noe, sont passez mille cinq cens & six ans, & depuis la naissance de Noe iusques a la parfaicte fabrication de l’arche, approchant de l’vniuerselle inondation passerent six cens ans si les dons estoyent Solaires ou Lunaires, ou de dix mixtions. Ie tiens ce que les sacrees Escriptures tiennent qu’estoyent Solaires.
[2772] Et a la fin d’iceux six cens ans Noe entra dans l’arche pour estre sauue du deluge, & fut iceluy deluge vniuersel sus la terre, & dura vn an & deux mois.
[2801] Et depuis la fin du deluge iusques a la natiuite d’Abraham, passa le nombre des ans de deux cens nonante cinq. Et depuis la natiuite d’Abrabam iusques a la natiuite d’Isaac, passerent cent ans. Et depuis Isaac iusques a Iacob, soixante ans, des l’heure qu’il entra dans Egypte, iusques en l’yssue d’iceluy passerent cent trente ans.
[2857] Et depuis l’entree de Iacob en Egypte iusques a l’yssue d’iceluy passerent quatre cens trente ans. Et depuis l’yssue d’Egypte iusques a la edification du temple faicte par Salomon au quatriesme an de son regne, passerent quatre cens octante ou quatre vingt ans.
[2900] Et depuis l’edification du temple iusques a Iesus Christ selon la supputation des hierographes passerent quatre cens nonante ans. Et ainsi par ceste supputation que i’ay faicte colligee par les sacrees lettres sont enuiron quatre mille cent septante trois ans, & huict moys peu ou [2944] moins.

Übersetzung

Jedenfalls sind seit der Erschaffung der Welt bis zur Geburt Noahs gezählt 1506 Jahre vergangen, und seit der Geburt Noahs bis zur vollständigen Herstellung der Arche, der Sintflut näherrückend, vergingen 600 Jahre; gleich ob dies Sonnen- oder Mondjahre oder zehn (beide) gemischt seien. Ich glaube das, was die Heilige Schrift sagt, dass sie zur Sonne gehören. Und am Ende von diesen sechshundert Jahren betrat Noah die Arche, um sich vor der Sintflut zu retten, die allgemein auf der Erde herrschte; und sie dauerte ein Jahr und zwei Monate. Seit dem Ende der Sintflut bis zur Geburt Abrahams verging eine Anzahl von 295 Jahren. Seit der Geburt Abrahams bis zur Geburt Isaaks vergingen 100 Jahre. Und von Isaak bis zu Jakob 60 Jahre, von der Stunde, da er [d.h. Jakob] nach Ägypten kam, bis zu seiner Geburt [umgekehrte Reihenfolge], vergingen 130 Jahre.

Und seit dem Erscheinen von Jakob in Ägypten bis zum Auszug von dort, vergingen 430 Jahre. Und seit dem Auszug aus Ägypten bis zur Erbauung des Tempels, veranlasst von Salomon, im vierten Jahr seiner Regentschaft, vergingen 480 oder achtzig Jahre. Und seit der Erbauung des Tempels bis zu Jesus Christus, gemäß der Berechnung der Schriftgelehrten, vergingen 490 Jahre. Und daher, durch diese Berechnung, die ich gemacht habe, gesammelt aus der Heiligen Schrift, sind es ungefähr 4173 Jahre und acht Monate, mehr oder weniger.

Stellen wir die Angaben von Nostradamus in einer Tabelle zusammen:

Ohne auf Details dieser Angaben eingehen zu wollen, ist eine Differenz zwischen beiden Zeitreihen von 665 Jahren feststellbar.

Danach gibt Nostradamus einen Art „Mittelwert“ an, der mathematisch nicht korrekt ist; er schreibt:

[2919] Et ainsi par ceste supputation que i’ay faicte colligee par les sacrees lettres sont enuiron quatre mille cent septante trois ans, & huict moys peu ou moins.

Übersetzung:

Und daher, durch diese Berechnung, die ich gemacht habe, gesammelt aus der Heiligen Schrift, sind es ungefähr 4173 Jahre und acht Monate, mehr oder weniger.

Jetzt zeigt sich ein interessanter Zusammenhang, denn der Brief an Heinrich weist genau 4173 Wörter auf!

Die Vermutung liegt nahe – und sie hat sich bestätigt -, dass auch alle anderen Zeitangaben Wortanzahlen im Brief H bedeuten. Die Zahlen sind Wortintervalle (keine Zeitintervalle) und definieren die Positionen, an denen eine Regel in anagrammatischer Form beginnt.

Gleiches gilt für den Brief an Caesar, der 2282 Wörter insgesamt aufweist. Man erhält schließlich 22 Positionen, d.h. die Anfangsstellen für 22 Regeln, die zur Neureihung des lateinischen Textes dienen und somit den Vergleichstext für die zweite Berechnungsart ergeben. Die endgültige Positionierung dieser Anfangsstellen der Anagramme in beiden Briefen ist aus den nachstehenden Diagrammen ersichtlich. Erwähnt wird, dass die Länge eines Anagramms ebenfalls genau bestimmt ist: das Anagramm weist stets dieselbe Wortanzahl wie der ursprüngliche Text auf.

Die dritte biblische Zeitreihe

Der Almanach für das Jahr 1566 enthält eine weitere biblische Zeitreihe, die im Abschnitt über die Almanache behandelt wird.