Wie erhält man nun die neue Reihung der lateinischen Sätze? In den Briefen und manchen Quatrains gibt es gemeinsame „Stichwörter“. Die Briefstellen sind zu anagrammieren und geben sodann den Platz des lateinischen Satzes in der neuen Reihung an. Ein Beispiel:
Das erste Stichwort im Brief H [585] lautet „tripode aeneo“; der französische Brieftext, in dem dieses Stichwort steht, heißt: „Le tout accordé & presagé l’vne partie tripode aeneo“ – das ganze (Werk) übereingestimmt und vorhergesagt zu einem Teil auf dem ehernen Dreifuß. Es soll hier nicht untersucht werden, ob Nostradamus tatsächlich auf diese Weise, wie die Priesterin Pythia im antiken Delphi, seine Visionen erhalten hat. Es soll vielmehr ermittelt werden, ob durch anagrammatische Behandlung der Briefstelle tatsächlich eine Aussage gebildet werden kann, wonach diese lateinische Phrase „tripode aeneo“, wie die Paralellstelle „selle d’aerain“ im allerersten Quatrain der Centurien nahelegt, Platz 1 in der neuen Ordnung haben soll. Es kann hier nicht jeder einzelne Arbeitsschritt dieser Anagrammbildung dargelegt werden. Es kann nur das Ergebnis, das ja nachprüfbar ist, festgestellt werden. Der gesamte zur Anagrammierung herangezogene Text (Regel LATH02) lautet: |
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UT | (Ursprünglicher Text aus Brief) ET LE COURAGE DE TOUTE CURE, SOLICITUDE, ET FACHERIE PAR REPOS ET TRANQUILITE, DE L’ESPRIT. LE TOUT ACCORDE ET PRESAGE L’VNE PARTIE TRIPODE AENEO. |
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AT | (Anagrammierter Text) SELLE D’AERAIN DU VERS ECRIT A CETTE PAGE TRIPODE AENEO , FAICT QU’ON RECOLTE POUR PETITE PHRASE LIEU I PRIE. TOUTE LETTRE ACCORDE REGLES DU TOUT. |
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DT | (Deutsche Übersetzung von AT) SELLE D’AERAIN DES VERSES, AUF DIESER SEITE TRIPODE AENEO GESCHRIEBEN, BEWIRKT, DASS MAN FÜR DIE KLEINE PHRASE DEN ERWÜNSCHTEN PLATZ I ERZIELT. DER GANZE BRIEF ENTHÄLT DIE REGELN FÜR DAS GANZE. |
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Die Durchführung solcher Anagrammierungen bedarf einiger Übung. Da für die Reihung der lateinischen Sätze 22 Anagramme zu bilden waren, stellte sich bald Übung ein. Es sind auch einige Grundsätze zu beachten. Etwa sind soweit wie möglich Wörter und Wortteile des ursprünglichen Satzes beizubehalten, hier etwa accorde oder tout. Es stellte sich auch heraus, dass jedes Anagramm definitionsgemäß nicht nur dieselbe Anzahl von Buchstaben, sondern auch dieselbe Anzahl von Worten und von Apostrophen aufweist! Der UT ist stets durch Interpunktionen abgegrenzt. Eine wesentliche Hilfe ist aber, dass man die Positionen, wo die Anagramme im Brief beginnen, kennt! Woher? Das erfährt man im Abschnitt über die Bedeutung der biblischen Zeitreihen. Durch die Anfangspositionen sowie durch dieselbe Wortanzahl ist Anfang und Länge jedes Anagramms definiert; die übereinstimmende Zahl von Apostrophen bildet eine zusätzliche Bedingung. Der oben angeführte erste anagrammatisch gefundene Satz enthält auch den Hinweis auf weitere im Brief an Heinrich enthaltene Regeln. Die Regel, die sich im Zusammenhang mit dem Stichwort „Triumvir“ ergibt, sagt aus, dass man die Ordnung der lateinischen Sätze durch „Ordnungswörter“ (Stichwörter) in den beiden Briefen findet, wobei die Anzahl der lateinischen Phrasen, der Suchbereich und auch die Überprüfungsmöglichkeit angegeben werden. Es ist interessant, dass Nostradamus die wesentlichen Hinweise zur Reihung des lateinischen Textes, nämlich das Vorhandensein von Stichworten, wo sie zu suchen sind und wie das Ergebnis schließlich überprüft werden kann, genau in jene drei Anagramme verpackt hat, für die er im Prosa- und im Verstext völlig identische Stichwörter angibt: FATO, TRIUMVIR und SALON.
Das lässt den Schluss zu, dass er den Einstieg in die Entschlüsselung seines Werkes nicht völlig verhindern, sondern nur erschweren wollte. „Sed quando submovenda erit ignorantia…“ – aber einmal wird die Unwissenheit beseitigt sein – schreibt Nostradamus im Brief an seinen Sohn. Die durch die Anagramme erhaltenen Regeln lassen sich übersichtlich folgendermaßen darstellen: |
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Der lateinische Vergleichstext lautet auf Grund aller anagrammatischen Regeln für die Neureihung der lateinischen Sätze:
Wozu dient nun dieser neu geordnete lateinische Text? Loog hatte mit seiner Vermutung recht, dass jeder Buchstabe des lateinischen Textes einem Quatrain der Centurien entsprechen könnte. Der neu geordnete lateinische Text dient als Vergleichstext. Jeder Quatrain ist einem bestimmten Buchstaben dieses Textes zugeordnet, er „sitzt“ praktisch auf diesem Buchstaben. Das gesamte Werk der Prophéties besteht auf Grund dieser Untersuchung aus 948 Quatrains. Dies ergibt sich auch aus einer der anagrammatisch erhaltenen Regeln. Es soll hier nicht untersucht werden, wie man die sieben Quatrains findet, die zu den in den Centurien enthaltenen 941 Versen hinzukommen. Es soll aber eine interessante rechnerische Beziehung vorgestellt werden:Die Gesamtanzahl der Zeilen aller Quatrains und des lateinischen Verses ergibt exakt die von Nostradamus angegebene Zahl, das Jahr des Endes seiner Prophezeiungen. Die Gesamtzahl 948 lässt sich auch noch aus anderen Unterlagen herleiten (Brief H, Testament). Der lateinische Text weist ebenfalls 948 Buchstaben auf, wie sich aus dem Abschnitt über den ersten lateinischen Text ergibt. So kann tatsächlich jedem Quatrain genau ein Buchstabe des lateinischen Vergleichstextes zugeordnet werden.